Ein ganz normaler Gruppenabend
So, da habe ich es mal wieder. Uwe fragt mich nach einem Bericht über einen Gruppenabend, ich denke nicht nach, sage ja, weil ich glaube, dass schüttele ich mal eben so schnell aus dem Ärmel. Und jetzt? Jetzt frage ich mich, was ich so schreiben soll.
Vielleicht etwas über die Gespräche? Natürlich keine Inhalte der Gespräche aus der Gruppe. Das geht ja Niemanden, außer den Gruppenbesuchern, etwas an. Über die Regeln, wie wir miteinander umgehen? Die sind ja bekannt und können nachgelesen werden.
Also noch mal ganz genau nachgedacht, wie so ein „normaler“ Gruppenabend abläuft. Jetzt sollte ich nur noch ein besseres Gedächtnis haben.
Was ist so ein normales Gruppengespräch, was haben so „normale“ Gruppenabende gemeinsam? Da gibt es eine Vielzahl von Gruppenabenden, die mir so durch den Kopf gehen können. Gruppenabende, die ich als Gruppenbegleiter oder Gruppenverantwortlicher erlebt habe, Gruppenabende, an denen andere Freunde als Gruppenbegleiter oder Gruppenverantwortliche tätig waren. Je mehr ich so „hirne“, umso mehr wird mir eins bewusst: ich habe keine Gruppenabende erlebt, die völlig gleich waren oder identisch abgelaufen sind.
Sicherlich gibt es immer wieder ähnliche Situationen, ähnliche Probleme oder ähnliche Konstellationen. Aber sicher ist auch, dass es dann eigentlich immer ganz anders abgelaufen ist. Mir ist auch klar, warum. Keiner von uns ist an zwei Abenden gleich. Im Laufe der Zeit verändert sich jeder von uns ein wenig oder entwickelt sich weiter. Und wer beim ersten Gespräch vielleicht noch geschwiegen hat, lässt beim nächsten Mal vielleicht alle anderen an seinen Erfahrungen zum Thema teilhaben.
Dennoch will ich versuchen, den Verlauf eines „normalen“ Gruppenabends unserer Dienstagsgruppe II zu beschreiben.
Wir treffen uns im Freundeskreis ab cirka 19.00 Uhr. Nach und nach „trudeln“ die Gruppenmitglieder im Freundeskreis ein. Bei einem Kaffee, einem Wasser oder einer Cola sitzen wir zunächst im Aufenthaltsraum beieinander. Freudig und lautstark wird jedes ankommende Gruppenmitglied begrüßt. Häufig auch umarmt und fest gedrückt. In der Küche wird noch der Rauch der einen oder anderen Zigarette in die Luft geblasen. Die Gespräche sind lebhaft, durcheinander und manchmal so schön unsinnig.
Gegen 19.30 Uhr geht es dann gemeinsam in den Gruppenraum. Eine oder einer der Gruppenverantwortlichen, davon gibt es in unserer Gruppe nicht weniger als vier, übernimmt zunächst einmal die Regie und stimmt die Gruppe auf den Abend ein. Und womit geht das am Besten? Sehr oft mit Musik. Manchmal mit einer kurzen Geschichte oder einer anderen kurzen Einstimmung auf den Abend.
Nach der Einstimmung und der Begrüßung gibt es häufig erst einmal Informationen aus dem Vereinsleben. Welche zusätzlichen Gruppenangebote gibt es, welche Seminare, welche Veranstaltungen liegen vor uns? Was gibt es Neuigkeiten im Verein? Was gibt es zu organisieren, wo wird Hilfe oder Unterstützung benötigt? Wer ist wo dabei und wer will was an Angeboten nutzen?
Als nächstes werden jetzt die Themen des Abends festgelegt. Wer hat eine Frage, ein Thema, ein Problem mitgebracht, das jetzt besprochen werden soll? Jetzt ist jeder von uns in der Gruppe gefragt und jeder ist ab jetzt gleich verantwortlich für das Gelingen der nun folgenden Gesprächsrunde.
Schon sind wir mitten in unserem normalen Gruppenabend. Aber was ist schon normal an unserer Gruppe? Die Gruppenbesucher, na klar! Aber schon die Zusammensetzung ist nicht unbedingt gewöhnlich. Neben Alkoholkranken finden bei uns auch Angehörige von Suchtkranken (ich spreche viel lieber von Co-Abhängigen), Menschen mit Essstörungen oder Drogensucht, aber auch anderen nicht stoffgebundenen Süchten ihren Platz.
Wie das funktioniert? Das geht doch eigentlich nicht! Doch, das klappt bei uns wunderbar. Das liegt wohl daran, dass wir kaum (noch) von unseren Suchtmitteln reden. Wir sprechen vielmehr über unsere Gefühle. Ungute Gefühle und Gefühlszustände, die uns in unserer Sucht begleitet und vielleicht sogar angetrieben haben. Darüber, wie und was wir in Lebenssituationen fühlen, die uns begleiten, vielleicht belasten oder auch erfreuen. Wir tauschen uns darüber aus, was uns belastet, wie wir damit umgehen und wie wir damit fertig werden. Aber natürlich tauschen wir uns auch über die Dinge aus, die uns besonders gut gelungen sind. Unsere großen und kleinen Erfolge im täglichen Leben. Und in den Gefühlen verstehen wir uns prima untereinander. Egal welche Sucht oder welches Co-Problem uns in den Freundeskreis geführt hat. In meinen Gefühlen werde ich verstanden und verstehe die anderen Gruppenteilnehmer in ihren Gefühlen.
Ich gebe und bekomme Rückmeldungen über das, was ich sage oder höre und wie ich andere erlebe oder von anderen erlebt werde. Es ist für mich ein sehr schönes Gefühl, wenn ich erlebe, dass Gruppenmitglieder sich entwickeln, den Mut haben, sich auszuprobieren, sich Kompetenzen aneignen und anfangen, selbst Probleme zu lösen, die in der Vergangenheit zu mächtig waren. Und noch schöner ist es, wenn ich es jemanden als Rückmeldung auch sagen kann.
In der Gruppe findet wirklich das gesamte Leben seinen Platz. Alles, wirklich alles. Und das mit dem unglaublichen Vorteil, dass hier keiner dem anderen etwas vormachen muss oder will, nur um zu gefallen.
Für gewöhnlich vergeht die Zeit bis 21.30 Uhr wie im Fluge und dann ist es Sache des für den Abend Verantwortlichen darauf zu achten, dass die Runde nicht endlos über die geplante Zeit hinausgeht. Sollte doch einmal noch ein wenig Zeit bis zum Ende sein, dann beschließen wir den Abend mit einer kurzen Lesung oder einer Befindlichkeitsrunde. Gelegentlich wird es auch nur einer meiner, hoffentlich nicht allzu seichten, Witze.
Die Gespräche sind häufig sehr intensiv und hochkonzentriert, manchmal befassen wir uns auch mit Themen, die uns sehr betroffen oder sogar auch ein wenig traurig machen. Und dennoch haben wir jeden Abend unseren Spaß. Spaß aneinander und miteinander. Nicht immer Spaß im Sinne von Vergnügen und vergnüglich sein. Aber Spaß daran, dass wir füreinander da sind und einander vertrauen können.
Jetzt geht es auseinander. Natürlich nicht ohne der Bundeswehr, der Polizei oder der Feuerwehr gutes Wetter zu wünschen (wir haben dann nämlich auch welches). Ach so, ein wenig Ordnung machen wir dann auch noch. Die benutzten Gläser in die Spülmaschine, Abfall in den Dreckeimer und was sonst noch so anfällt. Ich gestehe, dass ich (vielleicht weil Mann?) hier zuweilen auch eine sehr selektive Sichtweise habe und es mir problemlos gelingt, an der größten Unordnung vorbeizuschauen.
Irgendwann nach 22.00 Uhr verlasse ich die Räume des Freundeskreises und stelle wieder einmal fest, dass Gruppe daraus besteht zu geben und zu nehmen. Richtig gut ist es, wenn das auch noch ausgeglichen ist. Und bei mir stimmt diese Gleichung schon seit langer Zeit. Ich hoffe bei den anderen auch.
Torsten Wilkens
(Freundeskreis Karlsruhe)