Freundeskreise für Suchtkrankenhilfe - 
Landesverband Baden e.V.

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Freundeskreis Nova Vita Mannheim auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela

Unser Gruppenmitglied Armin war mit seinem Freund Ralf im Jahr 2013 die letzten 200 km auf dem Jakobsweg (Camino Frances) gelaufen. Sein Erlebnisbericht einschließlich Foto-Show löste großes  Interesse und eine solche Begeisterung aus, dass wir als Gruppe beschlossen, ebenfalls eine solche Pilgerwanderung zu planen. Acht Teilnehmer hatten sich per Aushang angemeldet. Wir einigten uns auf die Strecke von O Cebreiro nach Santiago, das wären 160 km in 10 Etappen. Der ganze Camino Frances ist übrigens ca. 800 Km lang. Auch waren wir uns einig, dass wir traditionell pilgern wollten. Das heißt, wir wollten in Herbergen mit gemeinschaftlichen Schlafräumen übernachten und weder Pensionen noch Hotels nutzen. In  Herbergen kann man nicht reservieren. Das bedeutet, wer zuerst da ist, liegt zuerst. Die Kosten für eine Übernachtung liegen zwischen 8 und 15 €. Je nach Unterkunft müssen diese morgens zwischen 7-8 Uhr geräumt sein. Dank Armins Erfahrung wussten wir, dass wir mit 30.- € am Tag rechnen müssen. Das reicht für Frühstück, Pausen in Cafebars, Abendessen und Übernachtung. Der Zeitraum für die Pilgerreise stand auch endlich fest. Er war vom 14. bis 27.April 2014. Die Planung war abgeschlossen; also ging es ans Training.

Die motivierten Teilnehmer waren Armin mit Frau Martina, Ralf, Maria, Rainer, meine Lebenspartnerin Christina mit Tochter Esther (14 Jahre alt, meine Ersatztochter seit 11 Jahren) und ich, der Klaus. Esther wollte übrigens aus eigener Motivation unbedingt bei diesem Spektakel dabei sein und war natürlich ein vollwertiges Mitglied der Pilgergruppe. Die Gruppe bestand aus drei trockenen Suchtkranken und fünf Angehörigen/Co Abhängigen. Da der Camino laut Armin und Ralf anstrengend ist  und über Berg und Tal führt, trainierten wir öfters im Pfälzer Wald. Zuerst ohne und später mit den großen bepackten Rucksäcken auf dem Rücken. Das Gewicht der Rucksäcke betrug bei Esther ca. 6 kg, bei den andern 8-15 kg. Die Rucksäcke waren so gepackt wie auch später für den Camino. Jeder Teilnehmer musste genau überlegen, was in den Rucksack kommen sollte, da er damit ca. 10-11 Tage auf dem Weg auskommen musste.

Am Montag, 14.4. 2014 um 14:30 Uhr ging es endlich in Mannheim los. Um kostengünstig zu reisen, hatten wir uns einen Mercedes Sprinter 9-Sitzer gemietet, den wir mit sechs Fahrern abwechselnd lenkten und in dem wir zum Glück echt viel Platz hatten. An dieser Stelle noch ein herzliches Dankeschön an Herrn Bolz von der BR Autovermietung in Karlsruhe für die Unterstützung. Mit Pausen benötigten wir 23 Stunden bis zum Ausgangspunkt unserer Wanderung, O Cebreiro. Armin und Ralf verstellten den Transporter auf einen angemieteten Parkplatz bei Santiago und kamen mit Bus und Taxi wieder zur Gruppe zurück.

In dem schönen Mittelalterort O Cebreiro haben wir uns mit unseren Pilgerpässen angemeldet. Der Pilgerpass ist ein wichtiges Dokument auf dem Camino. Ohne Pilgerpass bekommt man keinen Zutritt zu den Herbergen und ohne entsprechende Stempel keine Urkunde (die Compostela). Pro Tag benötigte man einen Stempel und auf den letzten 100 km brauchte man sogar zwei Stempel am Tag. Schon bei der ersten Übernachtung bewahrheiteten sich meine schlimmsten Befürchtungen bezüglich der Schlafräume in den Herbergen.  Alle 23 Betten (einschließlich meinem) waren belegt. Es raschelte in jeder Ecke. Spätestens jetzt wusste ich, warum ich Ohrstöpsel mitnehmen sollte.

Am Mittwoch, den 16.4 ging die Pilgerreise endlich los. Ich war ganz hinten mit Ralf, die andern gingen los wie eine Rakete. Nach einem Kilometer ging bei mir auf einmal nichts mehr. Die Beine blockierten und ich hatte Atemnot. Ralf beruhigte mich und sagte: ,,Das kann passieren und geht wieder weg“. Er meinte, ich sei noch nicht bereit zum Laufen. Nach Atem- und Dehnübungen ging es auch bei mir weiter. Alltag und Stress hinter mir lassen, das war das Geheimrezept. Nur ein Gedanke war noch da. Einen Kilometer habe ich schon, sind ja nur noch 159. Mein Humor war auch wieder da, schööön.

Gleich nach unserer ersten Etappe wurden wir in Fillobal sehr nett von der Herbergsmama Rosa empfangen. Dort konnten wir auch zu Abend essen und uns waschen, was in den meisten Herbergen übrigens nicht möglich war. Für die Verpflegung suchten wir auf der ganzen Reise überwiegend landestypische Möglichkeiten, also Pilgermenüs oder einfache Gerichte, auch wenn dies die eine oder andere Überraschung offenbarte.  Als Glücksbringer für den Weg brauten Rosa und ihr Bruder eine Quemeida (brennender Schnaps) an. Das ist dort Tradition und soll böse Geister vertreiben. Die suchtkranken Männer lehnten natürlich dankend ab; aber nach Absprache mit diesen tranken die Angehörigen solch einen Geistervertreiber. Ich habe Rosa noch scherzhaft erklärt, dass in Deutschland nur Frauen Alkohol trinken. Danach klärte ich Rosa aber über uns auf. Jetzt verstand sie endlich, warum wir keinen Alkohol trinken wollten und sie fand es toll, dass wir diesen „trockenen“  Weg seit Jahren gehen. Bereits nach wenigen Stunden hatten wir schon eine herzhafte Verbindung zu unserer Herbergswirtin. Der Abschied fiel uns und Rosa schwer. Ich glaube, fast alle hatten Tränen in den Augen.

Gekennzeichnet ist der Camino mit Muschelzeichen oder gelben Pfeilen. Die Natur, Landschaft und die Ruhe waren ganz toll. Mal bin ich alleine gelaufen, mal zu zweit, mal mit mehreren. Auf jeden Fall immer mein Tempo, alles andere machte mich müde. Wir haben uns ja immer wieder bei den Pausen in den Cafebars getroffen. Schon bei der zweiten Etappe glaubte ich, jetzt richtig zu pilgern. Ich habe mich gefühlt, gespürt und saugte die Eindrücke in mich hinein. Unterwegs haben wir noch Judith kennenlernen dürfen, die mit ihrer Trauergruppe auf dem Camino war. Die Gespräche mit Judith und den Teilnehmern der Trauergruppe fand ich sehr bewegend und ich fragte mich, wie viele schwere Schicksale es wohl unter den Menschen gibt.

Eine Besonderheit war die Übernachtung in der Klosterherberge Samos. In dem großen Schlafsaal stand ich dann minutenlang auf einer Stelle. Es war saukalt in dem Gewölberaum und ich zählte 80 Betten. Und wie in fast allen Herbergen gab es nur Stockbetten. Immerhin fand ich ein Bett unten und in der Nähe vom Ausgang. Jedoch konnte ich in dieser Nacht kaum schlafen. Ein Gewusel und Geraschel  war da abends - unglaublich. Ich wusste bis dahin gar nicht, wie viele Menschen nachts aufs Klo müssen. Es war wie eine Pinkelautobahn. Immer wieder kamen Pilger mit ihren kleinen Taschenlampen an mir vorbei. Und manche strahlten mir in ihrem Dämmerzustand auch noch mitten ins Gesicht. Irgendwann fand ich es nur noch amüsant und ging dann auch mal auf die Autobahn, natürlich mit Taschenlampe.

Der Weg (der Camino) ist sehr unterschiedlich, führt durch mittelalterliche Orte, die  teilweise ausgestorben sind (10 Häuser und ein Einwohner), verläuft neben Landstraßen und auch durch größere Orte. Mal ist er asphaltiert, mal hat man angenehmen Waldboden, dann wieder einen Naturweg mit Steinen, die teilweise ziemlich groß sind. Und oft ging es, wie schon erwähnt, rauf und runter und zeitweise war es dann auch wieder eben. Der Camino ist anspruchsvoll und  kein Spaziergang. Und bereits bei der dritten Etappe mussten Martina, Armin, Ralf und Maria nach 10 km aussteigen. Alle hatten gesundheitliche Probleme (Magen, Hüfte, wunde Füße). Nach einer Besprechung in der Gruppe wurden wir uns einig, dass die Vier zurück bleiben und die andern Vier bis zum geplanten Etappenziel weitergehen. Abends kam Maria mit dem Taxi zu uns nach, damit sie zur Feier von Rainers Geburtstag dabei sein konnte

Am nächsten Tag kamen mir vor Portomarin beim Anblick eines sehr schönen Stausees die Tränen. Zuerst wusste ich nicht warum. Dann spürte ich es. Der Stausee erinnerte mich an meine Langzeittherapie vor 14 Jahren am Schluchsee. Die drei tags zuvor Zurückgebliebenen wanderten an diesem Tag ca. 10 km hinter uns,  aber dank der Handys hatten wir ständig Kontakt miteinander.  Aber bereits am nächsten Morgen rief Armin an und teilte mit, dass seine Frau Martina nicht mehr weiter könne. Ihre Füße seien offen. Er würde mit ihr zusammen mit dem Bus nach Monte de Gozzo, zur letzten Herberge vor Santiago, fahren. Dagegen hatte Ralf uns mittlerweile eingeholt, wollte aber jetzt größere Strecken laufen, um schneller wieder bei seinem besten Freund Armin zu sein.

Die Probleme dieses Tages waren damit noch nicht vorbei. Esther litt an Übelkeit, fühlte sich schwach und konnte ihren Rucksack nicht mehr tragen. Über 5 km trug ich ihren Rucksack an der Brust noch mit. Nach ca. 11 km mussten heute Esther und Maria abrechen. Sie fuhren die restlichen 5 km nach Ligonde mit dem Taxi. Das war eine kluge Entscheidung von den Beiden. Bei Regenwetter und 12 Grad gingen Christina, Rainer und ich die letzten Kilometer nach Ligonde. Abends war Esther völlig platt und schlief nur noch. Bevor sie einschlief, sagte sie noch zu Christina und mir: „Hoffentlich bin ich morgen wieder fit, ich möchte nicht, dass einer von euch wegen mir abrechen muss“. Dieser Satz hat uns beide sehr berührt. Bei mir kündigte sich eine Erkältung an mit Schüttelfrost. Der Jakobsweg soll auch eine Art Prüfung sein, aber davon  hatten wir erst einmal genug.

Auf unserer mit 23 km längsten, 6. Etappe bescherte uns  das Wetter immerhin einen Sonnen- Wolken-Mix mit 15 Grad. Da ich wegen meiner Erkältung mit Aspirin Komplex nachhelfen musste, meinte ich noch, vielleicht nur eine kürzere Strecke laufen zu können. Aber je länger ich lief, desto besser ging es mir. Nach jedem Kilometer kam ein neuer Kilometerstein auf dem die Entfernung nach Santiago stand. Die Landschaft, die sehr netten Einheimischen und das Wir-Gefühl der Pilger motivierte mich immer mehr. Das einfache Leben ohne TV und Computer fand ich nur noch gut. Mir fehlte nichts - gar nichts. Auf dem Camino lernte ich immer mehr Menschen aus der ganzen Welt kennen. Trotz sprachlicher Hindernisse konnte ich mich mit allen unterhalten. Mit ein wenig englisch, Händen und Füßen und Gesten haben wir uns verständigt.

Entlang des Camino sieht man auch immer wieder aus Stein gebaute kleine Gedenkstätten. Sie sehen wie Minialtare aus. Und in diesen Gedenkstätten findet man oft irgendwelche Utensilien, Bilder oder laminierte Schriftstücke von Pilgern, die diese Sachen dort ablegten. Beim Kilometerstein 34 war ich sehr berührt. Da war ein Gedenkstein für eine spanische Frau, die an dieser Stelle gestorben ist. Mit Gänsehaut und  nassen Augen bin ich weiter gegangen. Bei Kilometerstein 33 fand ich einen Abschiedsbrief einer  jungen deutschen Frau, die anscheinend unheilbar an Krebs erkrankt war. Bilder von ihr mit und ohne Haare lagen auch dabei. Sie schrieb noch Zeilen an ihre Eltern, ihren Freund und den Hund. Und sie bedankte sich dafür, dass sie den Camino noch gehen durfte. Tief bewegt und sehr nachdenklich bin ich weitergegangen.

In Selcado kehrten wir in die abgefahrenste Cafebar ein, die ich bisher auf dem Weg erleben durfte. Dort lief eine tolle Rockmusik, an der Decke hingen T-Shirts von Pilgern aus der ganzen Welt und an die Wände durfte man einen Zettel hängen oder einfach direkt drauf schreiben.

Den Rest nach Pedrouzo lief ich allein. Ich habe mir dabei viele Gedanken über mich und mein Leben gemacht. Erfüllt von großer Dankbarkeit,  dass ich gesund bin, traf ich in der Herberge ein. Wir teilten uns den Schlafraum mit einer Taubstummen-Gruppe aus Irland. Ein Taubstummer, der mich in Arzua in einem Lokal wegen eines Missverständnises schief angemacht hatte, war in diesem Zimmer. Er kam auf mich zu und umarmte mich. Es tat ihm sehr leid. Ich zeigte mit dem Daumen nach oben was so viel bedeutet wie „es ist alles ok“.

Auf der letzten Etappe nach Santiago de Compostella musste auch noch Maria aussteigen. Sie ließ sich von Armin und Ralf mit dem Auto abholen und zum Monte de Gozzo fahren. Waren also noch Rainer, Christina, Esther und ich übrig. Vor meiner Lebenspartnerin Christina zog ich vor Respekt den Hut. Ich hätte nicht gedacht, dass sie so fit ist; bravo. Esther kündigte noch an, dass sie auf jeden Fall  mit Rucksack in Santiago ankommen will. Sie sagte noch: ,,Notfalls krieche ich auf allen Vieren nach Santiago“. Das sind die Momente, die ich nie vergessen werde. Der Wettergott meinte es heute nicht gut mit uns. Das war wohl wieder so eine Prüfung des Jakobswegs. Es regnete in Strömen wie aus Kübeln. Nach ca. 10 km musste ich mich in einer Cafebar komplett umziehen.

Kurz vor dem Monte de Gozzo kamen uns Armin und Ralf entgegen. Ich habe mich sehr gefreut, als ich sie sah. Beim Pilgerdenkmal auf dem Monte de Gozzo gingen wir noch in die kleine Kapelle. Dort sind einige Tränen unter uns Pilgern geflossen. Bei mir ausnahmsweise mal nicht. Bei der Herberge besuchten wir noch die kranke Martina, der es schon viel besser ging. Danach sind wir zu siebt die letzten 5 km angegangen. Und da war er endlich. Der Kilometerpunkt null auf dem Platz vor der riesigen und mächtigen Kathedrale von Santiago de Compostela. Dort umarmten wir uns alle zusammen. Im Pilgerbüro bekam ich nach Vorlage des Pilgerpasses endlich die Compostela. Und jetzt kamen mir richtig die Tränen. Ich habe es geschafft und bin sehr dankbar, dass ich den Camino erleben durfte.

Am nächsten Tag, es war Christina Geburtstag, gingen wir auf den Altstadtmarkt und um 12 Uhr in die Kathedrale zur Pilgermesse. Und dort waren wir wieder vereint – alle acht Pilger. Wir trafen einige Menschen wieder, die wir im Lauf des Weges kennengelernt hatten. Diese Pilgermesse war ein tolles Erlebnis. Abends haben wir in der Altstadt noch Christinas und Rainers Geburtstage gefeiert. Geburtstag feiern in Santiago, das ist auch was Besonderes.

Danke für dieses Abenteuer und für das was ich auf dem Jakobsweg erleben durfte. Es fragte nie jemand, welcher Konfession ich angehöre oder was ich von Beruf bin oder verdiene. Ich fühlte mich frei und ich durfte dort einfach nur ich sein, der Klaus.

Danke an Christina, Esther, Maria, Martina, Armin, Rainer und Ralf, dass ich das mit euch erleben durfte. Ich bin stolz auf euch alle. Jeder von euch hätte seine eigene Geschichte zu erzählen; das war mal meine.

Danke an alle Menschen aus der ganzen Welt, die ich auf dem Jakobsweg kennenlernen durfte.

Danke an alle geduldigen Leser; es ging leider nicht kürzer. Vielleicht habe ich beim einen oder anderen Leser die Neugier geweckt oder ein kleines Feuer entfachen können. Vielleicht ist ja irgendwann einer von euch auf dem Camino. Wenn ja, wünsche ich euch einen erlebnisreichen, spannenden Weg.

Bon Camino   
Klaus Büchel
Vorsitzender Freundeskreis Nova Vita Mannheim

PS: Bei mir brennt immer noch oder schon wieder das Feuer. Vielleicht sage ich auch mal wieder irgendwann: „Ich bin dann mal weg!!!“