Alkoholismus – eine Familienkrankheit

Freundeskreis Seminar in Bad -Herrenalb 05. - 07. November 2009

Die Suchtkrankenhilfe weiss es schon längst, Alkoholismus ist eine Familienkrankheit. Das Familienleben richtet sich nach dem Suchtkranken. Partner, Kinder, Eltern, Geschwister und das sogar das soziale Umfeld (Freunde, Kollegen, Hausarzt) sind involviert und versuchen dem Kranken zu helfen. Verharmlosen, Vertuschen bis hin zur Leugnung der deutlich erkennbaren Tatsachen sind die Folge. Schleichend wie der Alkoholismus entwickelt sich die Co-Abhängigkeit.

Zum Einstieg in das Thema am Freitagabend hatten die Teilnehmer die Gelegenheit die Sichtweise des Partners kennen zu lernen. Eine Partnerübung mit dem Auftrag den Körper des  Partners in die gefühlte Position zu stellen, veranschaulichte das persönliche Befinden in der damals akuten Lebenssituation überraschenderweise sehr authentisch. Noch überraschender scheint das Ergebnis: Nahezu alle Positionen zeigten eine leidende, verzweifelte und hilflose Haltung, egal ob Betroffener oder Angehöriger! Die These „Alkoholismus ist eine Familienkrankheit“ scheint sich damit zu manifestieren!

Am Samstag beschäftigte sich der Seminarinhalt zunächst theoretisch mit den Personen im Umfeld des Alkoholkranken. Untersuchungen ergaben folgende Erkenntnis: Ausgehend von 2.5 Millionen Alkoholabhängigen Menschen in Deutschland leben 52,5 % in einer festen Partnerschaft. Das bedeutet es kann von 1,3 Millionen Partnern (davon 2/3 Frauen) und 5 – 10 Millionen Angehörigen (Eltern, Kinder, etc.) ausgegangen werden. Erstaunlicherweise nehmen nur 10 % der betroffenen Angehörigen selbst Hilfe in Anspruch. Co-Abhängigkeit ist demnach ein verbreitetes Phänomen und ein Tabuthema zugleich!

Bekannte Definitionen der Co-Abhängigkeit:

Whitfield       

Erkrankung, die durch eine enge Verbindung mit einem Alkoholkranken entsteht und die durch Stressbelastung zu psychosomatischen Erkrankungen führen kann

Rennert

Problem- und Lebensbewältigungsmuster, gekennzeichnet durch zunehmende Einschränkungen der Wahrnehmung von Verhaltensalternativen

 Mc Govern

Persönlichkeitsstörung, durch pathologische Abhängigkeit von einer anderen Person gekennzeichnet

Fengler

Co-Abhängigkeit ist eine Beziehungsstörung und –abhängigkeit. Co-Abhängige unterstützen ihre Partner bis zur eigenen Selbstaufgabe. Sie sind nicht in der Lage, die Aussichtslosigkeit ihres Verhaltens zu bewerten und sich entsprechend zu verhalten.  Co-Abhängigkeit kann soweit führen, dass Co-Abhängige sich selbst nicht mehr fühlen und wahrnehmen – zumindest in der Beziehung zum Süchtigen, oft aber auch darüber hinaus.

Alle vorgestellten Definitionen implizieren eine psychisch verursachte Erkrankung die zu psychosomatischen Erkrankungen führen kann.

In der Partnerschaft mit einem suchtkranken Menschen zeigen sich unterschiedliche Interaktionen. Beispielsweise reagieren die Partner mit gleichen oder ähnlichen Verhaltensweisen (symmetrisch) oder sie reagieren gegensätzlich (komplementär). Beide Verhaltensweisen haben eine Abfolge von Phasen mit verschiedenen Verhaltensmustern von Angehörigen zur Folge: 

  • Beschützerphase
  • Kontrollphase
  • Anklagephase

Erste Phase - Beschützerphase

Der Alkoholabhängige passt sich an, streitet ab, vermeidet, bagatellisiert und wird zuweilen kurzfristig abstinent, während der/die Angehörige verdeckt, verharmlost, übersieht und erklärt.

Zweite Phase – Kontrollphase

Der Alkoholabhängige trinkt heimlich, entwickelt Schulgefühle, zieht sich zurück und wird kurzfristig abstinent, während der/die Angehörige tabuisiert, kontrolliert, einschränkt und beschuldigt.

Dritte Phase – Anklagephase

Der Alkoholabhängige fühlt sich beschuldigt, geht in die Defensive, während der/die Angehörige mit Trennung droht, aggressiv reagiert und möglicherweise die Trennung vollzieht.

Häufig zeigen sich beim Partner eines Alkoholabhängigen Persönlichkeitsmerkmale wie ein übermäßiges Verantwortungsgefühl, ein ausgeprägtes Mitleidsgefühl, starke Helferimpulse, die Unfähigkeit Kritik oder Zurückweisung zu ertragen, Einsamkeit und soziale Isolation, Perfektionismus, Verhaltenszwänge, Schuld- und Unzulänglichkeitsgefühle. Symptomatisches Verhalten impliziert die Entschuldigung und/oder Rechtfertigung des Partners, das Ausbügeln seiner negativen Konsequenzen, den Partner ertappen wollen, Kontrollieren und Verstecke finden wollen,  ihn bekehren wollen, Mittrinken, Belastungen abnehmen und ihm ersparen wollen.

Angehörige befinden sich durch das Aushalten von Spannungen, Ertragen von Frustrationen und ggf. Demütigungen, dem permanenten Übernehmen von Verantwortung, dem Ausüben von Kontrolle und dem Fordern der Veränderung in einer stets ambivalenten Gemütsverfassung. Die Unzuverlässigkeit und Unberechenbarkeit des trinkenden Partners ist neben Vernachlässigungsgefühlen, Aggression und Gewalttätigkeit sorgt für extreme Belastungssituationen. Vermehrte Partnerschafts –und Familienkonflikte, mitunter sexuelle Übergriffe, finanzielle Probleme, die Angst vor Alkoholvergiftungen etc. sind mögliche Folgen.

Auswirkungen zeigen sich im Verhalten (Hilflosigkeit, Zorn, Ärger, Vernachlässigung eigner Bedürfnisse, Isolation etc.), im physischen und psychischen Bereich. Daraus entseht ein „Drama Dreieck“ der Angehörigen zwischen Retter, Opfer und Täter. Daraus resultieren spezifische Haltungen Angehöriger: 

  • Annahme, dass mit ausreichender Liebe, Geduld und Ausdauer das Suchtproblem des Partner zu lösen sei
  • Dass man sich selbst nicht in den Mittelpunkt stellen darf
  • Dass die Bedürfnisse der anderen wichtiger sind als die eigenen
  • Dass man durch Kontrolle das Verhalten andere dauerhaft ändern kann
  • Dass Abgrenzung und Abwehr alles nur noch schlimmer machen würde
  • Dass man im Konfliktfall ohnehin unterlegen sei
  • Depressiv – resignative Stimmungen und Haltung 

Gerade Angehörige, wurde in den Gruppenarbeiten herausgearbeitet, benötigen parallel zur Behandlung des trinkenden Partners Hilfe und Unterstützung z.B. in Selbsthilfegruppen, bei der Sucht-, Ehe- und Familienberatung und/oder in den Fachkliniken. Nur wenn Familienangehörige ihr eigenes Verhalten ändern und ihr Selbstbewusstsein und ihre Selbstsicherheit stärken, besteht die Möglichkeit systematisch Veränderungen herbeizuführen.

Als Präsentation wurde das „Craft Modell“ vorgestellt, das in den USA derzeit aktuell praktiziert wird:

Community = Gemeinschaft (Familie, Freunde, Arbeit, Schule)
Reinforcement = Verstärkung (im Sinne der Lerntheorie)
Approach = Ansatz
Family = Familien (Angehörige, die an Progammen teilnehmen)
Training = Training

 Die Ziele von „Craft“:  

  • Verringerung des Konsums durch den Abhängigen
  • Behandlungsaufnahme
  • Verbesserung der Lebenszufriedenheit der Angehörigen 

Um die genannten Ziele zu erreichen sollen folgende Bausteine für Angehörige eine Basis bilden: 

  • Motivation der Angehörigen
  • Kommunikationstraining
  • Nutzen positiver Verstärker
  • Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensqualität der Angehörigen
  • Gewaltpräventive Strategien
  • Verhaltensanalysen
  • Nutzen negativer Konsequenzen
  • Vorbereitung der Behandlung 

Das „Craft Modell“ soll demnach co-abhängige Verhaltensweisen, die den Konsum unterstützen oder erleichtern umgehen. Die genannten Ziele des „Craft Modells“ unterstützen und verstärken das abstinente bzw. gewünschte Verhalten des Abhängigen. 

Das vorgestellte „Craft Modell“ lieferte den Anlass zu heftigen Diskussionen bei den Seminarteilnehmern. Explizit Angehörige sahen die Verantwortung der Verhaltensänderung des Abhängigen einzig wieder auf den eigenen Schultern lastend. Der Wunsch, auch für Angehörige vergleichbare Hilfen (z.B. ein Kuraufenthalt) wie für den Abhängigen zu initiieren, vermittelte das „Craft Modell“ nicht. Das „Craft-Modell“ zeigt Strategien für Angehörige zur eigenen Verhaltensänderung. Für Angehörige von Suchtkranken stellt das keine neue Erkenntnis dar. 

Alkoholismus als Familienkrankheit zu begreifen wird bei der Arbeit in den Freundeskreisen längst praktiziert. Dennoch ist der Co-Alkoholismus nicht als eigenständige Krankheit anerkannt. Für Angehörige bleibt, eigene Wege bzw. Strategien zu finden, um mit der Suchtkrankheit in der Familie umzugehen.

Die genannten Bausteine des „Craft-Modells“ könnten mögliche Strategien individueller Bewältigung darstellen. Angehörige benötigen Hilfe in der akuten Phase und in der Nachsorge. Umdenken, lernen neuer Verhaltensweisen und Selbsthilfegruppen sind die zum aktuellen Zeitpunkt gegebenen Möglichkeiten.

Cornelia Breithaupt