Sucht als Familienerkrankung

Einführungsreferat zum Mitarbeiterfachtag am 26.04.2009

gehalten von Barbara Kunz

I. Einführung: Sucht = Familienerkrankung

Sucht als Familienerkrankung zieht sich als Thema durch die letzten Seminare. In der Arbeit mit Alkoholkranken hat es eine ganze Weile gedauert, bis man Sucht als Krankheit sah, die die ganze Familie betrifft. Inzwischen ist Co-Abhängigkeit als eigene Störung zwar im Bewusstsein aller, die mit Suchtabhängigen arbeiten, aber immer noch nicht als eigenes Krankheitsbild anerkannt.

Wir aus den Freundeskreisen haben uns beschäftigt mit 

  • dem Suchterkrankten (Betroffenen)
  • der Auswirkung auf die Familie (Alkoholismus als Familienkrankheit)
  • der Auswirkung auf Paare in den Freundeskreisen (Angehörige / Co-Abhängige)
  • der Auswirkung auf die Kinder (suchtkranke Eltern haben Kinder)

Heute, als Abschluss des Themenkreises „Familie“ schauen wir auf uns, die wir an einer Sucht erkrankt sind oder die wir Angehörige eines Suchtkranken oder selbst an Co-Abhängigkeit erkrankt sind. Wir beschäftigen uns jedoch nicht mit unserer gegenwärtigen Rolle sondern mit der Position, die wir in unserer Herkunftsfamilie eingenommen haben und die uns bis heute prägt.

II.Schnittmengen

Sucht wird oft von einer auf die nächste Generation weitergegeben.
Fragen: 

  • wer kommt aus einer Familie, in der ein Elternteil suchtabhängig oder auch psychisch krank ist oder war
  • wer hat Großeltern mit Suchterkrankung (oder psychischer Erkrankung oder Behinderung)
  • wer hat Onkel/Tanten mit…

Sucht als Familienerkrankung breitet sich nicht nur vertikal (Großeltern - Eltern – Kinder) aus, sie hat auch eine horizontale Ebene. 

  • wer ist als Einzelkind aufgewachsen
  • wer hat 1, 2, 3, mehr als 3 Geschwister
  • Geschwister mit einer Suchterkrankung
  • Geschwister mit einer Co- Erkrankung
  • ist selbst suchterkrankt - ist selbst Co- erkrankt

III. Referat

52 % aller Alkoholerkrankter sind selbst Kinder aus Alkoholikerfamilien. 60% der nicht alkoholerkrankten Partnerinnen von Abhängigkeitskranken haben selbst einen alkoholkranken Vater.

In Familien, wie es Familien mit Suchtproblemen sind, gibt es feste Regeln und Rollen. Diese Regeln lauten:

Rede nicht: Es darf nichts nach außen dringen, was in der Familie passiert.

Vertraue nicht: Es ist besser, misstrauisch gegen alle zu sein, die nicht zur Familie gehören, meist wollen sie der Familie schaden.

Fühle nicht: Eigene Gefühle haben keinen Platz in einer belasteten Familie.

Viele von uns kennen diese Regeln und haben sie verinnerlicht. Aufgabe in der Selbsthilfe ist es, diese Regeln auf ihre Wirksamkeit und Berechtigung zu hinterfragen und ggf. aufzuheben.

Jetzt zu den Rollen: Ich möchte euch eine ganz normale Familie vorstellen, nennen wir sie die Familie Muster. Familie Muster besteht aus Vater, Mutter und 4 Kindern Das älteste Kind, eine Tochter heißt Johanna Dann kommt ein Sohn, Philipp. Dann Susanne und als Jüngste Rosemarie. Zunächst sehen wir Familie Muster als Glückliche Familie.

Herr und Frau Muster sind einander ebenbürtige Erwachsene, sie teilen sich als Partner und als Eltern

  • Verantwortung, 
  • Rechte und Pflichten,
  • Macht, 
  • Spaß und Freiräume.

Die Familienhirarchie stimmt, es ist klar, wer die Entscheidungen trifft, wer kontrolliert und wer für wen sorgt. Das sind die Eltern.

Die Kinder sind Kinder, d. h. 

  • sie dürfen spielen und ausprobieren
  • sie dürfen Bedürfnisse haben
  • sie dürfen die Erwachsenen brauchen
  • sie dürfen Schutz, Grenzen und Führung erfahren.

Jedes Mitglied in der Familie darf seine eigenen Vorstellungen, Meinungen und Interessen haben. Es darf seine Gefühle ausdrücken. Die Familie ist nach außen offen, sie lässt Einflüsse von außen herein und ermöglicht das Hinaustragen von Informationen und Außenkontakten für jedes Familienmitglied

Die Familie bekommt ein neues Mitglied: Alkohol (oder ein anderes Suchtmittel). Dadurch verändert sich das gesamte Familiensystem. Diese Veränderung vollzieht sich in drei Phasen. Man spricht auch von der Entwicklung eines dysfunktionalen Familiensystems.

Phase 1: Verleugnung

Zunächst wird das Problem verleugnet.Verwirrung und Angst schleichen sich in die Familie ein.

Etwas bedrohliches, das alle wahrnehmen läuft ab, doch das Gefühl wird verdrängt.

Scham entwickelt sich bei allen Familienmitgliedern.

Die Grenzen nach außen werden dichter gemacht Die Grenzen der Individuen nach Innen werden dagegen immer durchlässiger.

Phase 2: Kontrolle

Es wird alles versucht, das Problem in den Griff zu bekommen. Der Betroffene macht vergebliche Versuche der Selbstkontrolle. Parallel dazu unternehmen auch die Familienmitglieder Kontrollversuche, die jedoch auch scheitern.

Scham und Schuldgefühle wachsen ins Unerträgliche. Die Grenzen nach außen werden noch enger geschlossen. Die Grenzen der Individuen nach innen werden fast vollständig aufgehoben. Die Angst des Einen wird zur Angst des Anderen. Jeder achtet nur noch darauf, wie es den anderen ergeht, wie man am Besten reagiert, um eine drohende Entgleisung aufzuhalten. Immer mehr Energie wird in den Tanz um das Suchtmittel gesteckt.

Phase 3: Resignation und Anpassung

Resignation und Anpassung an das Problem, das heißt, der Erhalt der Familie mit dem Suchtmittel

Familie Muster hat inzwischen drastische Veränderungen durchgemacht: Als Paar und Eltern sind Pflichten, Rechte, Verantwortung und Macht nicht mehr gleichmäßig verteilt. Auch die Kinder haben sich in ihrem Verhalten, Erleben und Denken verändert. Spaß, Freiräume und Leichtigkeit verschwinden. Statt miteinander reden zu können wird immer häufiger gestritten oder geschwiegen. Am Ende dieser Entwicklung steht ein völlig anderes Bild der Familie Muster.

Die Rollen haben sich verändert.  Herr Muster beteiligt sich nicht mehr an den anstehenden Entscheidungen. Er hat sich abgekapselt und auf die Flasche, auf sein Suchtmittel zurückgezogen. Die anderen Familienmitglieder schließen ihn zunehmend von ihren Entscheidungen aus. Er steht isoliert am Rande und hat eher die Größe eines Kindes.

Frau Muster hingegen ist gewachsen. Sie hat einen Machtzuwachs erfahren. Sie wirkt überlastet und manchmal erschöpft, tieftraurig. Sie hat Stärken entwickeln müssen, sie regelt und entscheidet die Angelegenheiten des Familienlebens. Der daraus resultierende Machtzuwachs ist zumindest eine kleine Entschädigung für den „Verlust“ des Ehemannes als gleichwertigen Partner.

Auch die Kinder haben sich verändert. Keines ist mehr an seinem Platz, keines hat die altersgemäße Größe oder den richtigen Abstand zum Familienzentrum.

Die Familie Muster ist mit vier Kindern ausgestattet, da man in Suchtfamilien vier Rollen gefunden hat, mit denen Kindern auf den Einbruch der Suchtkrankheit in ihre Familie reagieren. Diese Rollen sind natürlich auch austauschbar, bzw. jedes Kind, insbesondere ein Einzelkind kann auch zwischen den verschiedenen Rollen wechseln. All diese Rollen sind als kaum bewusste Lösungsversuche in einer Notsituation zu verstehen.

Die Rollen der Kinder im Einzelnen:

1. Kleine Heldin oder kleiner Held.

Bei Familie Muster nimmt Johanna als die Älteste diese Rolle ein. Sie ist der Mutter am Nächsten, nimmt den Platz neben ihr ein. Sie nimmt sich die Überlastung der Mutter sehr zu Herzen und stellt sich als Vertrauensperson und Ansprechpartnerin für den in dieser Rolle wegfallenden Vater zur Verfügung. Sie trifft mit der Mutter zusammen die Entscheidungen für die Familie, passt auf die kleineren Geschwister auf und übernimmt Verantwortung, wo sie gebraucht wird. Johanna wirkt sehr tüchtig und frühreif. In der Schule fällt sie durch gute Leistungen und ihre vernünftige Art auf. Dafür erhält sie viel Anerkennung von Außenstehenden, was sie in der Beibehaltung ihrer Rolle stärkt.

Was dabei nicht auffällt ist, dass sie viel zu groß geworden ist und aus ihrem natürlichen Platz im Geschwisterverband herausfällt. Sie darf kein Kind mehr sein sondern ist Ersatzpartner der Mutter.

Wenn sie sich an diese Rolle gewöhnt hat, spürt sie möglicherweise ihre eigenen Bedürfnisse, Schwächen und Sorge für sich selbst nicht mehr. Dies bereitet sie gut vor für einen helfenden Beruf oder auf die Wahl eines ebenfalls abhängigen Partners.

Ihr Lebensmotto ist: Liebe ist nur durch Selbstaufgabe zu erlangen.

2. Der Sündenbock / das schwarze Schaf

Philipp, das Zweite Kind, reagiert völlig anders auf die veränderte Familiensituation. Er scheint sich für die Nöte und Sorgen seiner Familie überhaupt nicht zu interessieren. Er erscheint frech, kaum noch führbar und ist dauernd unterwegs. Wenn er dann heimkommt, bringt er meist Ärger mit. In der Schule „glänzt“ er durch schlechte Leistungen und stört den Unterricht, meist ruft der Lehrer die entnervten Eltern schon an, bevor das „schwarze Schaf der Familie“ überhaupt zu Hause ist. Der hat zwischenzeitlich vielleicht eine Scheibe eingeschlagen oder ist bei einem Ladendiebstahl erwischt worden. Dieser Junge scheint nur Ärger zu machen und raubt den Eltern ihre letzten Kräfte.

In Wirklichkeit lässt die Not der Familie Philipp keinesfalls kalt. Er hat lediglich einen Lösungsversuch unternommen, die Familie zu stabilisieren.

Er hat die Rolle des Sündenbocks gewählt. Gerade er ist vielleicht am Meisten bedrückt durch die Sprachlosigkeit der Eltern und identifiziert sich besonders mit dem Vater, auf dem alle nur noch herumhacken und dem jeder die Schuld für die Misere gibt. Er versucht, den Vater aus der alleinigen Rolle des „Schufts“ herauszuholen indem er für noch mehr Ärger als dieser sorgt.

Zugleich schafft er es durch seinen Einsatz, dass die Eltern immer wieder miteinander reden müssen, sei es auch nur deshalb, weil sie gemeinsam zum Lehrer oder aufs Jugendamt bestellt werden. So lernt dieses Kind, sich Aufmerksamkeit zu holen, wenn auch negative. Funktioniert dies und lernt Philipp, sich mit dieser Rolle zu identifizieren, so ist der Weg als Erwachsener in eine eigene Suchtentwicklung oder in die Kriminalität nicht weit.

Philipp hat noch eine weitere Funktion für das Familiensystem. Er ist derjenige, der durch sein Verhalten Hilfe von außen in die Familie holt ohne die Familie zu „verraten“. Durch seine Auffälligkeiten werden Außenstehende (Lehrer, Schulsozialarbeiter…) aufmerksam und drängen die Familie, Hilfe und Unterstützung für Philipp zu suchen.

3. Stilles Kind / Träumerle

Nun haben wir noch Suse in der Familie Muster. Auch sie reagiert auf die Veränderungen in der Familie auf ihre eigene Weise. Suse ist besonders empfindlich für die spürbare Erschöpfung der Eltern. Sie nimmt sehr sensibel wahr, dass der Vater ganz vom Kampf mit seinem Suchtmittel vereinnahmt ist und dass die Mutter durch die zusätzlichen Aufgaben und Sorgen zu erschöpft ist, um noch Kräfte für die Kinder zu haben.

So entscheidet sich Suse unbewusst, die Eltern zu entlasten, indem sie diese so wenig wie möglich in Anspruch nimmt. Sie wird zur „Traumsuse“, sie hat die Rolle des stillen Kindes oder Träumerle. Sie zieht sich in eine Welt der Bücher, PC-Spiele und der Phantasiewelt zurück. An Suse haben alle ihre Freude. Sie ist so unproblematisch und pflegeleicht. Sie redet nicht viel, zeigt auch bei Enttäuschungen keine heftigen Gefühle und scheint mit sich und der Welt zufrieden zu sein.

Was dabei oft übersehen wird ist, dass Suse eigentlich sehr weit entfernt ist von den übrigen Familienmitgliedern.

Die Not dieses Kindes fällt häufig erst in der Schule auf, es findet keinen Anschluss an Schulkameraden, kann sich nicht durchsetzten und wird von stärkeren Kindern herumgeschubst. Auch seine Leistungen sind eher schwach, da es sich nicht am Unterricht beteiligt und schlecht ausdrücken kann.

Dieses schüchterne und stille Kind läuft, wenn es älter wird in Gefahr, Alkohol als enthemmendes Mittel im geselligen Kontakt einzusetzen. Selbstverständlich eignet sie sich auch bestens für die Rolle einer Co-Abhängigen, die still ihr Leid erträgt.

4. Maskottchen / Clown

Das jüngste Kind der Familie Muster, Rosemarie, genannt „Rosie“, ist sehr temperamentvoll und der Sonnenschein in der Familie. Sie schwebt ständig auf einer „rosaroten Wolke“, unermüdlich ist sie bemüht, die Stimmung in der Familie zu heben und für gute Laune zu sorgen. Dazu wählt sie die Rolle des „Clowns“ oder „Maskottchens“. Sie ist ständig in Bewegung und sprudelt nur so vor Ideen und guter Laune. Sogar der immer mehr mit sich selbst beschäftigte Vater freut sich über seinen „Sonnenschein“, schließlich ist sie die einzige in der Familie, die den Kopf nie hängen lässt. Auch in der Nachbarschaft und in der Schule wird Rosie in ihrer Rolle bestärkt.

In Wirklichkeit nimmt Rosie sehr fein und empfindlich die düstere Stimmung in der Familie wahr. Ihre Art, das Familiensystem zu stützen, besteht darin, nach außen zu vermitteln, dass doch alles in Ordnung ist und sie ein glückliches Kind in einer glücklichen Familie ist.

Der stille Kummer hinter der lebhaften Fassade wird nicht gehört. Rosie kann sich so gut in ihre Rolle hineinleben, dass sie selbst an ihr falsches Bild glaubt und von ihrer eigenen Betroffenheit und Traurigkeit nichts mehr spürt und weiß.

Auch Rosie wird als Erwachsene gut darauf vorbereitet sein, die Partnerin eines Suchtmittelabhängigen zu werden oder sich in eine andere belastende Beziehungskonstellation zu begeben. Die daraus entstehenden Probleme wird sie mit einem Schulterzucken weglachen. Aber auch für eine Suchtentwicklung ist dieses Kind prädestiniert. Möglicherweise entwickelt sie sich zu einer Stimmungskanone, die auf keiner Feier fehlen darf und die die immer wieder aufbrechende Traurigkeit mit Alkohol oder Tabletten zu dämpfen versucht.

Jede und jeder von uns hat sich wohl in der einen oder anderen Rolle wiedergefunden. Manchmal nicht eindeutig in einer bestimmten Rolle, sondern in einer Mischung aus mehreren. Diese Rollenmuster sind ja auch nur ein theroretisches Modell; so ganz klar und abgegrenzt gibt es sie eher selten. Dennoch steht sicher bei den meisten von uns eine dieser Rollen im Vordergrund.

Nun heißt das nicht, dass wir zwangsläufig in diesen Rollen gefangen sind und dass ihre negativen Auswirkungen uns ein Leben lang uns belasten. Jede dieser Rollen hat auch ihre positive Seite.

Nach einer Problembearbeitung, sei es durch Lebenserfahrung, durch Therapie oder durch die Hilfe einer Selbsthilfegruppe kann Eine „Heldin“ / ein „Held“ zum Beispiel sehr gut eine Führungsposition übernehmen, ist hier zielbewusst, erfolgreich, zuverlässig, kompetent.

Ein „Sündenbock“ kann Risiken eingehen und ertragen, er hat Mut und stellt sich der Realität, auch für andere. Als Beruf sucht er sich vielleicht Betätigungen mit höherem Risiko wie Feuerwehrmann, Soldat, Stuntman… aus.

Das „Stille Kind / Träumerle“ ist unabhängig von der Beurteilung durch andere, ist kreativ, phantasievoll und erfinderisch, evtl. künstlerisch tätig und behauptet sich selbst, ohne auf die Meinung anderer Wert zu legen.

Das „Maskottchen“ / der „Clown“ ist eine charmante Gesellschafterin, ein guter Schauspieler, witzig, geistreich, humorvoll, einfühlsam und hilfsbereit.