Grußwort zum Selbsthilfefachtag 2007

gehalten von Oberkirchenrat Johannes Stockmeier, Hauptgeschäftsführer des Diakonischen Werkes Baden

Sehr geehrte Damen und Herren, ich freue mich sehr, heute auf dem Suchtselbsthilfetag zu Ihnen sprechen zu dürfen.

Die heutige Tageslosung für den 7. Dezember spricht die Erfahrung mancher Suchtkranken aus: "Führe mich aus dem Kerker, dass ich preise deinen Namen" (Ps 142,8), und der Lehrtext aus dem Galaterbrief verheißt: "Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!" (Gal 5,1).

Ganz anders der Volksmund: "Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott." "Du schaffst das! Denk einfach positiv!" heißt es im Erfolgscoaching. Wenn es so einfach wäre, sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen! Auch wenn dies gelänge - was, wenn jenseits des Sumpfes kein fester, einladender Boden vorhanden ist? Menschen, die warme Decken reichen, die sagen: "Willkommen?" Wenn über der festen Erde kein offener, blauer Himmel und weiter Horizont aufschiene?

In der Suchtkrankenhilfe gehört diese Dreiheit zusammen: Einmal der Mut und der Wille, die eigene Abhängigkeit zuzugeben, sich von seiner Sucht zu lösen. Diesen Weg muss jeder Mensch allein gehen. Aber bald braucht es Wegbegleiter und Wegbegleiterinnen, Menschen mit ähnlichen Erfahrungen, die einen notfalls auch bei der Hand nehmen. Die ihn als interessanten, liebenswerten Menschen, nicht als Alki oder Junkie sehen. Und zuletzt: es ist ein Allgemeinplatz, dass "Sucht von Sehnsucht" kommt. Bei den Anonymen Alkoholikern heißt es: „Religion ist für die Menschen, die Angst vor der Hölle haben, Spiritualität für die, die sie schon hinter sich haben." In der Auseinandersetzung mit Sucht geht es auch um Spiritualität, hier ist der heute fast modisch gewordene Begriff einmal angebracht. Lee Stringer, ein New Yorker Redakteur und früher alkoholabhängig und obdachlos, schreibt: "Ich kenne niemanden, der sich als schwer arbeitender, moralischer, gläubiger, nicht süchtiger (Mensch) sieht und sich um seines spirituellen Wachstums willen ähnlichen Strapazen aussetzt, wie Abhängige und Alkoholiker im Heilungsprozess es tun." Sehen wir in Menschen mit Suchtproblemen nicht nur das "Opfer", den Kostenfaktor, den haltlosen Menschen, sondern auch ihre große innere Kraft, ihre Willensstärke, ihr inneres Wachstum.

Und deshalb findet die Suchthilfe und Suchtselbsthilfe ihren Platz im Haus der Diakonie: Nicht als "Fürsorge" für andere, sondern weil Menschen mit Suchtproblemen Teil unserer kirchlichen und politischen Gemeinde sind. Weil sie Probleme, die andere verdrängen oder nicht wahrnehmen wollen, stellvertretend sichtbar machen und weil sie letztendlich nicht ihre Sucht sind, sondern starke Menschen, von denen wir "anderen", die wir uns unserer Süchte und Sehnsüchte in geringerem Maße bewusst sind, lernen und profitieren.

Ja, profitieren. Und da wir jetzt von der Spiritualität zur Sprache des Marktes gelangt sind: Das deutsche Suchthilfesystem ist extrem kostengünstig. Nicht, weil hier nichts investiert würde, sondern weil das große Engagement Ehrenamtlicher diese Arbeit stützt und trägt. Suchthilfe ist nicht umsonst: Mitarbeitende und Gruppenverantwortliche werden für ihre Arbeit ausgebildet und beraten, das Suchthilfenetzwerk der ELAS unterliegt in seinen Strukturen einem zertifizierten Qualitätsmanagement. Fast 160 Selbsthilfegruppen mit ca. 2.000 Teilnehmenden - auf dieses dichte Netz können wir in Baden stolz sein. Besonders hingewiesen sei auf das gute Zusammenspiel von Haupt- und Ehrenamtlichkeit, von Fachkliniken und Selbsthilfegruppen. Diese außerordentlich gute Vernetzung und die Abstimmung von Schnittstellen macht die Qualität dieses Hilfesystems aus. Besonders möchte ich an dieser Stelle noch dem DRV Baden-Württemberg als einem die Arbeit großzügig unterstützenden Partner danken.

Noch einmal: Eigene Kraft genügt nicht. Es macht wenig Mut, sich aus dem Sumpf zu ziehen, wenn da niemand ist, der sagt "Willkommen". Sucht hat viele Gründe und Ausprägungen, es gibt auch Gründe - ich erinnere an die Tageslosung - unter ihrem Joch zu bleiben. "Freiheit" schmeckt nicht beim ersten Bissen nach Abenteuer, sondern manchmal nach Einsamkeit, Orientierungslosigkeit. Da ist der Schluck aus der Flasche einfacher, das allnächtliche Surfen im Internet, das Zappen zwischen - ich glaube 265 sind es inzwischen - Fernsehprogrammen vertrauter, scheinbaren Halt gebend, auch wenn es letztlich der Halt eines Käfigs oder Gefängnisses ist. Damit Menschen Geschmack an der Freiheit finden, sich von ihrem Wind tragen lassen, weil sie letztendlich Flügel besitzen, dazu braucht es Ermutigung, Begleitung und Zeit. Ich danke allen ganz herzlich, die diese Zeit spenden und schenken.

Suchthilfe und Suchtselbsthilfe wird lautlos und selbstverständlich angeboten. Wir sollten viel öfter einmal aufschreien, denn ehrenamtliches Engagement kann nicht den Zweck haben, gesellschaftliche Defizite unauffällig auszugleichen. Ja, es beunruhigt mich, wenn ich in der S-Bahn, im Park bereits nachmittags um drei Uhr Jugendlichen mit zwei Sixpacks Bier, davon eines bereits halb leer, unter den Armen begegne. Es beunruhigt mich, wenn Jugendliche beim Kampftrinken - früher Privileg schlagender Burschenschaften - Rausch, Delirium und Kater nicht als Folgen falscher Selbsteinschätzung in Kauf nehmen, sondern diese als Trinkziel anstreben. Als Rauchen im Zug noch erlaubt war, wurde ich im ICE nach Berlin von einer Schulklasse von 15- bis 16-Jährigen förmlich eingenebelt. Der durchschnittliche Deutsche verbringt angeblich vier Stunden täglich vor dem Fernseher, auch Jugendliche und bereits Kleinkinder. Ist das alles an "Freiheit", was wir Kindern und Jugendlichen zu bieten haben: Vollrausch, kaputte Lungen, mediale Verblödung? Ich sage "wir" - dieses Problem lässt sich nicht auf "die Eltern", "die Schule", "die Gesellschaft allgemein" schieben. Die Jugendlichen leben in unseren Gemeinden, unserer Nachbarschaft. Hier sind wir auch als Kirchengemeinden gefragt, denn letztlich geht es für die Jugendlichen um Sinnfindung, Halt und Orientierung.

Schnell sind dann die Kirchen als Wertelieferanten gefragt. Werte aber dekretiert man nicht, sie werden gelebt oder nicht. Daher wollen wir an diesem Selbsthilfetag die wertvolle Arbeit einzelner Initiativen, vom Blauen Kreuz bis zu den Freundeskreisen, von Kompassgruppen, Ankergruppen bis zur Aktionsgemeinschaft Drogen e.V. würdigen, Good Practice-Beispiele vorstellen und diskutieren.

Lassen Sie sich von den ermutigenden Beispielen anstecken! Ich wünsche Ihnen allen, ob aktiv in der Arbeit oder diese organisatorisch oder finanziell unterstützend, weiterhin viele gute Ideen und Schwung für Ihre Arbeit. "Zur Freiheit hat uns Christus befreit!" lautete die Tageslosung - helfen Sie weiterhin mit, dass Menschen zur Freiheit finden und diese mit allen Sinnen genießen können!