Ist Sucht noch ein Tabuthema?
Offerta 2019
Dies können wir so nicht beantworten, da gibt es mit Sicherheit Institute, welche über ein repräsentatives Meinungsbild zu dieser Fragestellung verfügen. Aber wir wären nicht in der Selbsthilfe, wenn wir nicht auch auf diese Frage unser persönliches Erfahrungsbild hätten. Wir, das sind 28 Freundinnen und Freunde, überwiegend aus dem Freundeskreis Karlsruhe, aber auch aus den Freundeskreisen LoS Murgtal, Nova Vita Mannheim und der Blau Kreuz Gruppe Sinsheim, die 9 Tage mit den Besuchern der großen Verbrauchermesse Offerta ins Gespräch gekommen sind.
Um das Ergebnis der positiven Erfahrungen vorweg zu nehmen: wir hatten in noch keinem Jahr, seit wir auf der Offerta mit dem Thema Sucht präsent sind, solch eine enorme Anzahl von Gesprächen und persönlichen Kontakten. Manchmal waren es die ersten lockeren Worte bei der angebotenen Kostprobe unserer „Alkoholfreien weißen Sangria“, die zu Nachfragen über Suchtproblematiken in der eigenen Familie, in der Nachbarschaft oder am Arbeitsplatz führten oder der Aha-Effekt mit den Promille- oder Drogenbrillen. In den meisten Fällen entwickelten sich daraus ernste Gespräche und die Besucher unseres Standes gingen meist völlig offen mit dem sie wohl schon lange bedrückenden Thema Sucht um. Wir machten die Erfahrung, welche wir bisher überwiegend nur aus den Erstkontaktgesprächen in den Gruppen oder bei Vorstellung der Suchtselbsthilfe in Klinken, Rehaeinrichtungen etc. kannten, dass uns die Menschen sehr offen ihre jeweiligen Probleme schilderten. Es war selbst im Messetrubel zu spüren, dass die Möglichkeit dankbar angenommen wurde, mit Betroffenen und Angehörigen sprechen zu können, denen die geschilderten Situationen, Gefühlslagen und die Hilflosigkeit bestens bekannt waren. Wir nahmen uns selbstverständlich die Zeit für jeden Hilfesuchenden, sprachen mit ihnen über unsere eigenen Erfahrungen und wiesen mit Infomaterial auf die Hilfsangebote und Gruppengespräche der Freundeskreise hin und natürlich auch auf die diversen Beratungseinrichtungen in Stadt und Landkreis Karlsruhe und darüber hinaus.
Auch hatten wir den Eindruck, dass unser Stand in Halle 3 – ein Dank dem Offerta-Team, dass wir jedes Jahr unseren Stammplatz wieder erhalten - ganz bewusst zu einem Gespräch aufgesucht wurde. Aber wohl auch deshalb, weil sich die Besucher jedes Jahr auf eine neue Mitmach-Aktion freuen und natürlich auch 2019 nicht enttäuscht wurden. Das Equipment unseres Standes wurde aufgefrischt und in weiß gehalten, was einen helleren und freundlicheren Eindruck vermittelte. So stand auf einer weißen Säule ein Tresor, dessen Zahlencode es mit einer Promillebrille zu knacken galt. Mit ein wenig Konzentration klappte dies auch bei 0,8% bei den meisten ganz gut, aber beim Griff in die Tiefe des Tresors, um ein Päckchen Papiertaschentücher mit einem Kalender 2020 als Belohnung herauszuholen, musste der eine oder andere doch nachfassen und erkannte die Wirkung des Alkohols auf das räumliche Sehvermögen.
Sehr beeindruckend fanden die Besucher auch die Wirkung der Restalkoholbrille auf ihre Gangsicherheit bzw. Unsicherheit. Die Personen, welche diese Brille testeten, bestätigten in der überwiegenden Mehrheit, dass sie dieses Gefühl kennen, aber am „Morgen danach“ noch nie so bewusst registriert und die Wirkung des Restalkohols unterschätzt hätten.
Da wir Freundeskreisler die Sucht als Familienkrankheit sehr ernst nehmen, haben wir uns in diesem Jahr auch etwas für die Kinder einfallen lassen. Kinder sollten unbeschwert aufwachsen, ihren Spaß haben und auch kreativ sein. Für den Spaß und die Kreativität haben wir gesorgt, denn die Kinder konnten sich ihren eigenen Button herstellen. Tolle Motive stellten wir zur Verfügung und standen selbstverständlich auch mit Rat und Tat den Kids und natürlich auch den Erwachsenen bei der Handhabung unserer Buttonmaschine zur Seite. Rund 500 stolze Freundeskreis-Buttonbesitzer verließen unseren Stand.
Um zur Eingangsfrage zurückzukommen – natürlich ist Sucht, ob als Betroffener oder Angehöriger, immer noch in vielen Bereichen ein Tabuthema, wenngleich wir mit unseren diesjährigen positiven Erfahrungen feststellen konnten, dass die Hemmschwelle, sich nach Hilfe zu erkundigen, etwas niedriger geworden ist. Wenn wir vom Landesverband Baden und dem Freundeskreis Karlsruhe durch unsere seit einigen Jahren konsequente Öffentlichkeitsarbeit in den verschiedensten Ausprägungen ein klein wenig dazu beitragen konnten, dann hat sich das ehrenamtliche Engagement gelohnt. Deshalb mein Dank an Alle, welche zu ihrer Suchterkrankung stehen oder auch als Angehörige/r eines Suchterkrankten den Mut haben, dies öffentlich kund zu tun und damit anderen Menschen Vorbild und Wegbereiter in ein suchtmittelfreies Leben zu sein. Sucht ist immer ein Thema, aber es muss kein Tabuthema bleiben!
Dieter Engel